Episode 8

Wo Rauch ist…

Dr. Rutishauser musste dringend eine rauchen. Und jetzt ist Feuer unterm Dach…

Dr. Philipp Rutishauser stellte sich ein Birchermüsli aufs Tablett und schob es weiter zur Kaffeemaschine. Er verzichtete auf Zucker, nahm dann aber bei der Kasse noch eine Lindor-Kugel. Es war seine erste Pause. Als Nichtraucher. Er hatte es noch niemandem gesagt. Dass nun Schluss war mit dieser Qualmerei, hatte er gestern Nacht entschieden, als er vor lauter schlechtem Gewissen nicht einschlafen konnte. Immer wieder war er die Situation durchgegangen, welcher Teufel hatte ihn nur geritten? Die Nikotinsucht, klar. Aber mit knapp fünfzig sollte man doch ein derart kindisches Verhalten, also, das darf doch einfach nicht wahr sein!

Er legte noch eine zweite Lindor-Kugel dazu. Natürlich, es war vor allem auch ein unglücklicher Zufall gewesen. Normalerweise hatte er immer ein Feuerzeug in irgendeiner Tasche. Was heisst eins! Mehrere! Genau wegen so einem Fall. Wenn er dringend rauchen musste. Jawohl. Musste! Er musste einfach eine rauchen. In dieser Situation. Nach diesem Eingriff. Aus Erschöpfung. Für die Nerven. Als Belohnung. Meine Güte! Und jetzt würde wohl schon bald eine Belohnung auf ihn ausgesetzt. Auf den dreisten Dieb, der dem Chef das sündhaft teure Zippo gestohlen hat. Das Jubiläums-Geschenk. Sterling Silber. Replica von 1941. Mit seinem Lieblingsspruch eingraviert. «Speak your mind, but ride a fast horse.»

Dr. Rutishauser selbst hatte dieses Geschenk ja vorgeschlagen, hatte bei seinen Kolleginnen und Kollegen und anderen vom Personal dafür geweibelt und schliesslich von jedem einen Geldbetrag eingezogen. Er hatte es dem Chef an der Feier dann auch übergeben, begleitet von einer in unzähligen Stunden verfassten Spontan-Rede. «Nur kurz», hatte er gesagt, und mit dem Zippo gegen sein Weissweinglas geklopft, «spontan ein paar Worte.» Und sein Chef war richtig gerührt gewesen, auch als Zippo-Sammler, und betonte, er werde dem Feuerzeug hier, im Spital, einen speziellen Platz zuweisen. Natürlich kannte Dr. Rutishauser diesen speziellen Platz, und leider war der gerade unmittelbar in der Nähe, als Dr. Rutishauser so dringend rauchen musste, ohne ein Feuerzeug in der Tasche. Er wollte ja nur schnell hinten raus. Ungestört. Nicht dort, wo alle sind. Er wollte nur eine, vielleicht zwei rauchen, er war nicht auf ein Gespräch aus. Im Gegenteil.

Als dann überraschend Isabelle von der Traumatologie dazu stolperte, sie müsse eine rauchen, habe aber kein Feuerzeug, lachte er zunächst nur unhöflich und winkte ab. Zwei Zigarettchen später aber war die Pflegefachfrau bereits so etwas wie ein Partner in Crime geworden. Natürlich erkannte sie das Zippo sofort und fand es verwegen, aber gleichzeitig auch völlig in Ordnung, das Ding endlich einmal seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen. Was soll es auch die ganze Zeit über in dieser Vitrine versauern, und überhaupt, das Zippo gehöre ja eigentlich zu einem gewissen Teil auch ihnen beiden, schliesslich hätten sie ja einen nicht zu unterschätzenden Batzen daran gezahlt.

Dr. Rutishauser stimmte diesem Argument zu, obwohl er seinen finanziellen Beitrag damals selbstredend auf die Gruppe überwälzte, schliesslich hatte er ja die Idee zu diesem Geschenk geliefert, und die Spontan-Rede.

«Willst du mal?» hatte Dr. Rutishauser bei der dritten Zigi gefragt und Isabelle das Feuerzeug hingehalten. Sie konnte sogar diesen Trick. Sie schnippte das Zippo zwischen ihren Fingern auf und entfachte fast gleichzeitig die Flamme. Unglaublich. Dr. Rutishauser war begeistert. Überhaupt. Von der ganzen spontanen Situation. Dass das Feuerzeug dann nach einem halben Päckchen und einem sehr anregenden, berührenden Gespräch in Isabelles Tasche wanderte, nahmen sie beide gar nicht wahr. Das Zippo war komplett zur Nebensache, ja in Vergessenheit geraten, als man sich verabschiedete und eine gute Nacht wünschte. Dr. Rutishauser dachte erst wieder an das Jubiläums-Geschenk seines Chefs, als er am folgenden Morgen im Lift die eingerahmte Warnung sah: «Vorsicht Diebstahl!» Sofort durchsuchte er seine Taschen, er hatte das Feuerzeug nicht! Kreideweiss passte er die Krankenschwester schliesslich nach der Visite ab, aber auch sie fand das Zippo nicht. War es ihr irgendwo rausgefallen? Oder doch ihm? Sie mussten zurück an die Arbeit. Aber beide suchten bei jedem Schritt mit den Augen den Boden ab und waren nur halb bei der Sache.

«Ist das alles?» fragte Monika von der Kasse, und Dr. Rutishauser merkte, dass sich hinter ihm bereits eine kleine Schlange gebildet hatte. Er griff noch nach einer dritten Lindorkugel und bezahlte.
Etwas verloren blickte er sich um. Wie verbrachten Nichtraucher ihre Pausen? An welchen Tisch sollte er sich setzen? Gerade als ihm Roman von der Uro zuwinkte, hörte er hinter sich ein Geräusch. Er erstarrte. Drehte sich langsam um. Und verschüttete den halben Kaffee, vor Erleichterung, als da Isabelle, und nicht sein Chef vor ihm stand, und mit dem Zippo schnippte.
«Bist du verrückt, steck das weg!» sagte er etwas zu laut, «oder nein, gib es mir, gib es mir, ich lege es gleich zurück.»
Die Krankenschwester behielt das Zippo jedoch in der Hand. «Erst gehen wir noch eine rauchen. Ich brauche dringend eine Zigarette.»

Nichtraucher Dr. Rutishauser sträubte sich nur etwa zwei Sekunden, dann brach er ein. Jetzt war ja alles wieder gut, jetzt musst er sich ja nicht mehr bestrafen.
Draussen vor der Cafeteria, als beide eine Lindorkugel und eine Zigarette genossen hatten, sagte Isabelle, während sie die nächste anzündete: «Offenbar war Carlo, der schwarze Kater, bei uns im 8. Stock zu Besuch.» Sie schluckte den Rauch und schloss den Mund. Dann atmete sie durch die Nase aus. «Dass der immer wieder einen Weg zu den Patienten findet», antwortete Dr. Rutishauser, «ganz erstaunlich dieser Kater, wirklich.»
Isabelle nahm noch einen Zug. «Und er ist noch nie falsch gelegen. Wortwörtlich.» Wieder Rauch durch die Nase raus. «Das heisst, es wird bald gestorben, im Zimmer 16.»






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