Episode 7

Wasser und Licht

Estelle kriegt Besuch von ihrem Verlobten. Lilly von der Polizei. Und Marina erstattet Anzeige.

Estelles Verlobter, Anwalt Marc Burri, hatte einen Lauf. Er fand auf Anhieb einen Parkplatz, und gleich beim Krankenhauseingang gab es einen Blumenladen. Ein Glück! Er hatte seiner Assistentin noch auftragen wollen, Blumen für Estelle zu besorgen, hatte es dann aber zwischen Sitzungen und Klienten vergessen. Nun fragte er unumwunden nach dem teuersten Strauss. Die Blumenhändlerin war ganz reizend. Burri war sich sicher, dass er sie etwas nervös machte. Er vergrub die Hand mit dem Verlobungsring in seiner Armani-Anzughose und erkundigte sich, wie die Blumen denn am besten gepflegt würden. «Aufmerksamkeit», sagte die Blumenhändlerin, «zum Überleben brauchen sie Licht und Wasser, aber wenn Sie ihnen Aufmerksamkeit schenken, blühen sie richtig auf.»

Vor dem Aufzug holte Burri sein Handy hervor, kontrollierte erst seine Mails, dann seine Frisur. Ihm gefiel, was er sah. Einen Mann voller Energie und Tatendrang. Einen Mann mit einem Lauf. Es überraschte ihn nicht, dass der Aufzug, den er gewählt hatte, als erster ankam. Seit Estelle in sein Leben getreten war, oder vielmehr er in ihr Motivationsseminar, ging es wieder aufwärts. Er hatte ja kaum noch gegessen, nur noch geraucht. Seine Anzüge sackten an ihm herunter, und er schlief auf dem Sofa in seinem Büro. Die Kanzlei, die er gegründet hatte, war nur noch Zufluchtsort gewesen, und das neu gebaute Haus ein Alptraum. Seine Frau und die Kinder blieben nach der Scheidung drin wohnen.
Burri betrat den Aufzug. Mit ihm eine Ärztin, ein Patient an Krücken, und zwei Polizisten. Sie schienen sich über etwas zu amüsieren. Als hätten sie sich eben einen guten Witz erzählt. Burri drückte auf die acht. Chirurgie, Orthopädie, Traumatologie. «Da müssen wir auch hin», sagte der dickere Polizist, «irgendein Trauma haben wir doch alle.» Die Ärztin schüttelte nur den Kopf. «Vorbildlich, sehr vorbildlich», kam ihm sein langer Kollege zu Hilfe und zeigte auf das Informationsblatt, das eingerahmt im Fahrstuhl angebracht war. «Vorsicht Diebstahl!» stand da gross als Titel drüber. Beide Polizisten nickten dem Patienten an Krücken zu. «Man kann nie vorsichtig genug sein», sagte der dickere. Der Fahrstuhl hielt an. «Übrigens, wissen Sie, was ein Polizist sagt, wenn er einen Gips sieht?» fragte der längere. Die Tür öffnete sich. Burri schlüpfte hinaus, drückte kurz auf den Baktolin-Spender und rieb sich unterwegs zum Zimmer 16 die Hände ein. Das Lachen der Polizisten war immer noch zu hören. Es wurde sogar lauter. Die beiden kamen ihm hinterher. Die werden doch nicht etwa…? Jetzt schlossen sie auf. «Auch Zelle 16?» fragte der dickere und zwinkerte Burri zu. «Na ja», fuhr er fort, als Burri nicht reagierte, «jeder von uns sitzt doch in irgendeinem Gefängnis.» Sie waren angekommen. Der längere Polizist klopfte dreimal kurz und laut gegen die Tür und öffnete sie. Dann legte er Burri fast väterlich die Hand auf die Schulter. «Nach Ihnen.» Dass Estelle halbprivat lag, fand Burri kindisch. Das hatte er ihr schon am Telefon gesagt. Er hätte das Upgrade liebend gern für sie übernommen. In einem Einzelzimmer würde sie viel schneller wieder fit, «weniger Menschen, weniger Keime», argumentierte er, aber Estelle hatte einfach aufgelegt. «Sie wolle keine Besuche», hatte sie daraufhin in den Hochzeits-Chat geschrieben, in den Hochzeits-Chat! Da war seine Mutter drin. Und ihre Mutter. Und seine Schwester. Und alle zweihundert Gäste! Wer schreibt so etwas in den Hochzeits-Chat?!

Die beiden Polizisten steuerten direkt auf das Bett beim Fenster zu, in dem eine alte Frau lag. Im mittleren Bett starrte eine Teenagerin an die Decke. Burri rümpfte die Nase. Furchtbar, all diese Ballone. Das war doch sicher unhygienisch. Er trat zu Estelle ans Bett. Natürlich durfte sie wütend sein, oder enttäuscht. Burri verstand das. Sie wolle unter keinen Umständen einen Polterabend, hatte sie gesagt. Mehrmals. Nachdrücklich. Aber Burri war überzeugt gewesen, dass er Estelle in diesem speziellen Fall ein wenig zu ihrem Glück zwingen musste. Das hätte sie doch bestimmt den Rest ihres Lebens bereut. Das wollte und konnte er doch nicht zulassen. Also rief Burri kurz vor knapp seine Mutter und seine Schwester an und gab sogar noch seinen Flachmann mit, gut gefüllt, damit dieser Guerilla-Polterabend keine allzu steife Sache würde. Dass Estelle dann sturzbetrunken vom Rand des Löwenbrunnens rutschte, wie ihm seine Mutter unter Tränen schilderte, erschütterte ihn. Das war seine Schuld. Zum Glück war der Sturz einigermassen glimpflich ausgegangen. Ein paar Blessuren. Aber die Hochzeit war nicht gefährdet.

«Wie geht es Dir?» flüsterte Burri und streckte Estelle den Blumenstraus hin. Es war ihm peinlich, dass sie nicht allein waren im Zimmer. Die Polizisten nahmen die alte Frau gerade ins Kreuzverhör. Offenbar war irgendjemand vergraben worden, aber die Polizisten wussten noch nicht, wer.

«Ich kann mich gar nicht erinnern», sagte Estelle, schaute die Blumen nicht mal an, drehte den Kopf weg. «Wie bitte?» fragte Burri. «Wann du mich zum letzten Mal gefragt hast, wie es mir geht.» Burri liess es an sich abprallen. Er blickte sich im Zimmer um. «Die brauchen Wasser», sagte er, «und Licht.» Estelle begann zu weinen. Burri brauchte dringend irgendein Behältnis für die blöden Blumen. Er öffnete den erstbesten Schrank. Darin hing Estelles zerschlissenes Ketchup-Kostüm. Er erkannte auch ihre Sommersandalen. Und was war das? Burri schaute Estelle ungläubig an. Er warf ihr das Zigarettenpäckchen und das silberne Zippo-Feuerzeug auf die Bettdecke. «Rauchst du jetzt etwa?» Estelle griff sich das Feuerzeug und zündete es an. «Speak your mind, but ride a fast horse», las sie laut die Gravur auf der Rückseite vor. Hatte das nicht John Wayne gesagt? Es klopfte an der Tür. Estelle klappte das Zippo zu. «Nein», sagte sie, genau in dem Moment, als die Krankenschwester eintrat, «das ist nur geklaut.»

Für einen kurzen Moment wurde es still im Zimmer. Die beiden Polizisten drehten synchron ihre Köpfe. Die Krankenschwester wurde rot. «Oh», sagte sie, «da ist ja das Feuerzeug.» Nun kam der längere Polizist herüber. «Was meinen Sie mit geklaut?» Und Anwalt Burri, dem das seltsame Verhalten seiner Verlobten so langsam den Schwung nahm, doppelte nach, «das würde mich auch interessieren, Estelle, was meinst du mit geklaut?» Die Motivationstrainerin warf Marina, der eigentlichen Diebin einen flüchtigen Blick zu. Die Teenagerin hätte vom Alter her ihre Tochter sein können. Die sie nie hatte. «Speak your mind, but ride a fast horse», las Estelle abermals laut vor. «Alle meine Sprüche», sagte sie, und drückte den Unterarm ihres Verlobten, «meine Ratschläge, meine Motivationshilfen, meine Tipps, mein gutes Zureden, meine Witze, meine Ideen, meine Schlussfolgerungen, alle meine Einfälle, alle meine Sätze, alle meine Worte…habe ich zusammengeklaut. Über die Jahre. Von überall her. Aber nichts davon gehört mir. Oder zu mir. Je mehr ich mich bediente, desto mehr verlor ich mich. Ich weiss nicht mehr, wer ich bin. Manchmal sage ich sogar Dinge, die ich gar nicht meine. Verstehst du?» Burri war die Situation nun definitiv unangenehm. Er zupfte an seiner Krawatte. Sein Lauf war vorbei. «Aber Liebes», sagte er, blickte in die Runde und versuchte sein Witze-Gesicht aufzusetzen, «ich bin Anwalt, ich sage den ganzen Tag lang Dinge, die ich nicht so meine.» Er lachte auf und schaute die beiden Polizisten, die ja offenbar Witze mochten, auffordernd an. Sie verzogen keine Miene. «Und ist das Zippo nun geklaut oder nicht?» bohrte der dickere nach. «Ich möchte eine Anzeige machen», schaltete sich nun überraschend Marina ein. Um abzulenken. «Letzte Nacht war hier eine schwarze Katze im Zimmer und hat sie da beinahe umgebracht.» Marina deutete mit dem Kinn auf Lilly. Die anderen schauten sich ungläubig an. «Ja, ich vermute Katzenhaare oder Katzenspeichel, was weiss ich. Auf jeden Fall war da eine Katze und danach ging das Ersticken los. Wem auch immer diese Katze gehört, der macht sich doch schuldig, das ist doch grob fahrlässig, so eine Katze gehört doch hier nicht hin, in ein Spital, das ist doch bestimmt verboten, oder etwa nicht?!» Anwalt Burri pflichtete bei, so eine Keim-Schleuder einzuschmuggeln verletze bestimmt die Hausordnung. «Selbstverständlich», sagte nun die Krankenschwester dezidiert, gebe es im KSB keine Katzen oder andere Haustiere, das sei undenkbar. «Ich habe alles dokumentiert», antwortete Marina und zeigte zur Decke, wo ihr Handy schwebte. An drei Ballonen befestigt. Ich habe die Katze fotografiert und gefilmt. Die Krankenschwester wurde blass. Der längere Polizist nahm Anlauf, sprang hoch, griff sich das Handy und überreichte es Marina. Der dickere kam mit seinem Kugelschreiber und zerplatzte die Ballone. Marina entsperrte das Handy und reichte es der Krankenschwester. «Schauen Sie selbst.» Die Hand der Krankenschwester verkrampfte sich um das Handy. Alle Augen waren auf sie gerichtet. «Vergraben», flüsterte nun Lilly in ihrem Bett, «ich habe sie beide vergraben.» Die Krankenschwester tat ihr leid. Lilly musste ihr irgendwie zu Hilfe kommen. Sofort hatte sie die Aufmerksamkeit aller, vor allem auch diejenige der Kantonspolizisten. «Ich bin spät losgefahren, und es wurde Mitternacht, bis ich das richtige Plätzchen fand. Es konnte ja nicht irgendein Plätzchen sein. Es musste das perfekte Plätzchen sein für meine Liebsten», sagte Lilly, der es offensichtlich schwer fiel, zu erzählen. «Ich habe ein Loch ausgehoben. Und das Särglein rein. Passten ja beide in diese 6er Kiste Merlot. Waren ja nur noch Haut und Knochen.» Lilly schnäuzte sich lautstark. Tränen kullerten ihr über die Wange. Die Krankenschwester hatte die Bilder und Fotos der Katze unterdessen unbemerkt gelöscht. Sie schnappte sich das Zippo und huschte zur Tür hinaus.
«16 Jahre alt!» fuhr Lilly fort. «Sie waren beide 16 Jahre alt. Schnitzel und Pommes. Die Namen hatte mein Mann noch ausgesucht. Bevor er…» Lilly blickte in die Runde. «Ganz feine Hauskatzen waren das. Mit edlem Gemüt.» Ein weiteres Schnäuzen. Die Kantonspolizisten Hitz und Frunz entspannten sich. Natürlich hatten sie vermutet, dass sich der Fall der alten Frau mit der Schaufel und dem Dreck im Auto als völlig banal herausstellen würde, aber sicher sein kann man sich ja nie. Sie kondolierten, wünschten gute Besserung und verabschiedeten sich. Das mit der anderen Katze ging sie nichts an. Anwalt Burri nutzte die Chance auch gleich, und schloss sich den Polizisten an. Sollte sich erst mal Estelles Laune bessern, vorher machte ein Besuch tatsächlich wenig Sinn. Draussen auf dem Gang fragte der dickere Polizist Burri noch, ob er wisse, als was ein Polizist Ostern, Weihnachten und Pfingsten bezeichnen würde. Und drinnen, im Zimmer 16 drehte sich Estelle zu Lilly um. «Starben die beiden Katzen an Altersschwäche?»
Und Lilly sagte: «Die Katzen schon.»






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