Episode 4

Zimmer 16, 8. Stock

Estelle, Lilly und Marina liegen halbprivat. Aber sicher privater, als ihnen lieb ist.

Wenn sich Estelle Allemann ganz vorsichtig aufrichtet, geht es. So knapp. Sie liegt im Kantonsspital Baden. Im Zimmer 16. Im 8. Stock. Mit zwei anderen. «Wende dein Gesicht der Sonne zu, und du wirst die Schatten hinter dir lassen», ist einer der Sprüche, die sie in ihren Motivationssessions gerne an ihre Klientinnen und Klienten weitergibt. Den Spruch hat sie irgendwo einmal gelesen oder in einem Youtube-Filmchen von irgendeinem Guru gehört. Estelles Kopf ist randvoll mit solchen Sprüchen. Die sprudeln manchmal regelrecht aus ihr heraus. Ohne dass sie sich an deren Quelle erinnern könnte. Dann behauptet sie einfach etwas. «Wie Goethe ja schon sagte …» Oder: «Das ist ein Sprichwort aus Uganda.» Estelle selber haben solche Sprüche noch nie geholfen. Nicht, als sich ihre Eltern scheiden liessen. «Jeder Mensch ist der Architekt seiner eigenen Zukunft», sagte ihr Vater damals, da war sie gerade elf. Nicht, als sie einen Tag vor ihrem 17. Geburtstag feststellte, dass sie schwanger war, und ganz für sich allein, still und heimlich entschied, es nicht zu bleiben. «In der Natur gibt es weder Belohnung noch Strafen. Es gibt Folgen», stand im Internet. Und auch nicht, als ihr jetziger Verlobter abermals betonte, seine beiden Kinder aus erster Ehe würden ihm vollkommen reichen, das Thema sei für ihn ein für alle Mal abgeschlossen. «Wer den Weg der Wahrheit geht, stolpert nicht», waren seine Worte. Nun, Estelle war mehr als gestolpert. Der Krankenwagen war mit Sirenengeheul in die Weite Gasse eingebogen und vor dem Löwenbrunnen stehen geblieben. Sofort drängten sich Schaulustige rundherum. «Sie ist ausgerutscht, einfach ausgerutscht», sagte Estelles zukünftige Schwiegermutter, neben Estelle kniend, den Flachmann an einem Lederbändel um den Hals. «Auf dem nassen Brunnenrand.» Die Rettungssanitäterin bat, doch bitte etwas Platz zu machen. Estelle hatte die Augen geschlossen. Sie schien bewusstlos. «Eine Schere», rief die Rettungssanitäterin ihrem Kollegen zu, «ich muss sehen, wie es in diesem Kostüm drin aussieht.»
Estelle wimmerte mit geschlossenen Augen: «Bitte bringen Sie mich einfach so schnell wie möglich hier weg.»

Und dann Schockraum und Kittelgeraschel und Stimmengewirr und Schädel und Halswirbelsäule und Computertomogramm und Ultraschall und schliesslich: Hirnerschütterung und starke Prellungen und «Glück gehabt, grosses Glück gehabt» und «Sie bleiben zur Beobachtung ein paar Tage». Ein paar Tage? Estelle war wie vor den Kopf gestossen. Dafür hatte sie sich nicht den Kopf gestossen! Sie brauchte mehr als ein paar Tage. Vielleicht brauchte sie Wochen! Sie brauchte auf jeden Fall eine längere Auszeit von ihrem Leben, ohne dass jemand Verdacht schöpft, sie brauchte Zeit, sich neu zu sortieren, und sie war gewillt, diese Zeit im Spital zu verbringen, auf Gedeih und Verderb. Selbst wenn das bedeutete, mit diesen beiden komischen anderen Frauen das Zimmer zu teilen. Bett an Bett.

«Links», sagt Lilly, die alte Frau, als Estelle mit schmerzverzerrtem Gesicht an deren Bett vorbei zur Toilette humpelt. Estelle versteht nicht recht. Ignoriert sie. Humpelt weiter. «Links», wiederholt Lilly energischer, und Marina, die Teenagerin, zupft sich gespannt einen Kopfhörer aus dem Ohr. «Gestern, meine Liebe, humpelten Sie mit dem linken Bein.» Lilly blickt Estelle eindringlich an. «Sie müssen konsequent sein, sonst fliegen Sie auf.» Estelle räuspert sich. «Wie Hemingway schon sagte …», beginnt sie ihre Verteidigung, doch plötzlich stutzt sie. «Seit wann können Sie denn so klar sprechen? Ich dachte, Sie brächten kaum ein Wort … Sie sind doch halbseitig …», da klopft es an der Tür. Sofort wechselt Estelle aufs andere Bein. Eine Krankenschwester schiebt einen Wagen mit drei Wärmeglocken herein. «Rösti mit Bratwurst und Zwiebelsauce», sagt sie und lächelt in die Runde. Estelle blickt verstohlen zu Lilly. Die liegt nun völlig erschlafft da. Sogar das Gesicht scheint jegliche Spannung verloren zu haben, als tropfe es ihr gleich vom Schädel. Die Wangen weiss. Die Augen zu. «En Guete», sagt die Krankenschwester, doch bevor sie das Zimmer verlässt, dreht sie sich nochmals um. Es sei peinlich, sagt sie, aber sie vermisse ein Päckchen Zigaretten; sie fürchte, es sei ihr irgendwo, vielleicht bei der Visite, rausgefallen, unangenehm selbstverständlich. Aber so ehrlich sei sie, sie sage halt einfach die Wahrheit, darauf könne sie in ihrem Beruf am wenigsten verzichten, auf die Wahrheit. Also falls man die Glimmstängel finde, bitte klingeln, ungeniert, es gehe eigentlich ums Feuerzeug, das im Päckchen drin sei, das sei ein Geschenk gewesen, das dürfe sie nicht verlieren. «En Guete, en Guete», und raus aus der Tür.

Marina hebt mit ihren einbandagierten Armen umständlich die Wärmeglocke von ihrem Teller und macht noch viel umständlicher ein paar Fotos vom Essen. Vom Fotografieren werde man aber nicht satt, mahnt Estelle die Teenagerin, als spräche sie zu ihrer Tochter. Und Lilly, plötzlich wieder quietschfidel, doppelt nach, es sei doch tatsächlich eine seltsame Zeiterscheinung, Essen zu dokumentieren. Für wen, frage sie sich, für wen sei ein solches Foto interessant? «Ich dokumentiere grundsätzlich alles», erwidert Marina und macht direkt ein paar Fotos von Lilly und Estelle. «Von meinen 10 000 Onlinefreunden interessiert sich bestimmt auch der eine oder die andere für simulierende Patientinnen.» Sie macht gleich nochmals ein paar Fotos und hält die überraschten Gesichter ihrer beiden Bettnachbarinnen fest. «Oh», sagt die Lilly und nickt anerkennend, «Sie gefallen mir, Fräulein. Respekt. Mit Ihnen werde ich gerne einmal ein Zigarettchen paffen.» Sie greift sich die Krücke neben ihrem Bett und hebt damit, aus dem Bett heraus, die Bettdecke von Marina etwas zur Seite. Neben einem bleichen, schon etwas stoppeligen Bein kommt ein gelbes Zigarettenpäckchen zum Vorschein. «Ha!», entfährt es Estelle, «Wissen, also Mitwissen ist Macht! Das hat schon …» Lilly unterbricht. «Es scheint, als seien wir alle drei irgendwie unter einer Decke.» Sie hebt die Wärmeglocke von ihrem Teller und schnuppert über die Rösti und die Bratwurst. Dann greift sie zur Gabel und hält sie drohend in die Luft. «Wehe, eine von euch isst von der Zwiebelsauce!»






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