Illustration eines Baumhauses

Episode 3

Marina will hoch hinaus

Marina Kehl klettert auf den Baum ihrer Jugend. Und sieht bald sehr alt aus.

Marina Kehl nahm den Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn auf den Schwenktisch neben ihrem Spitalbett. Sie war bereit. Das Licht stimmte, ihre Frisur sass, und nach hundertmal drücken hatte sie auch die richtige Position für die Rückenlehne gefunden. Wenn sie genau so in ihre Handykamera schaute, bildete sich weder ein Doppelkinn, noch sah sie zu hochnäsig aus, sie durfte sich einfach nicht zu sehr bewegen. Konnte sie auch gar nicht. Ohne Schmerzen.
Marina war mit ihrem letzten Video der Durchbruch gelungen. Wortwörtlich. Sie kletterte auf die Linde hinter dem Elternhaus und zeigte ihren Followern die Baumhütte, in der sie ihre halbe Kindheit verbracht hatte. Alles sah noch genau so aus wie damals. Der abgewetzte Teppich. Das Couchtischlein. Die Bücherkiste. Marina fand sogar noch das vergilbte Unterwäsche-Heftchen, das ihr Bruder beim Altpapiersammeln mit der Pfadi erbeutet hatte. Er sprach immer ganz stolz von seinem Sexheftchen. Es bröselte beinahe auseinander, als Marina es vor laufender Kamera durchblätterte.
Marina nannte ihr Video-Tagebuch «Marinas Welt». Und die Reichweite, die es bis dahin erzielte, war auch auf Marinas Welt beschränkt. Ihre Mutter, ihr Bruder, ihre Cousine, die in England lebte, und ihre ehemalige Geigenlehrerin waren die einzigen Abonnenten. Ab und zu kriegte Marina auch ein «Like» oder gar einen Kommentar von einer ihrer Klassenkameradinnen; aber nur, wenn Marina davor deren Video-Blog oder «Vlog», wie es offenbar korrekterweise hiess, geliked hatte.

«Mal schauen, ob ich hier drinnen noch aufrecht stehen kann», sagte Marina gerade, als ihr das Dach entgegenkam. Ihre Mutter war von Anfang an gegen den Bau dieser Baumhütte gewesen. Und ihr Vater hatte zu dieser Zeit schon eine andere Familie mit anderen Bäumen und anderen Bauten gehabt. So war Marina selbst es gewesen, die Hammer und Nägel packte und den selbstgezeichneten Bauplan. Drei Tage lang werkelte sie an der Hütte und verbaute geschickt einen kaputten Lattenrost, einen Davoser Schlitten, einen alten Ikea-Schrank und ein SBB-Palett, das ihr Bruder stolz herbeigeschleppt hatte mit dem Hinweis «geklaut».
Offenbar hatte das Dach seither am meisten unter der Witterung gelitten.

Es war Marinas Glück, dass sie in diesem Moment das Handy zwischen den Händen hielt, beide Arme von sich gestreckt. Nie hätte sie es sonst geschafft, die Arme genügend schnell nach oben zu reissen, um ihren Kopf zu schützen. Natürlich waren die Balken und Bretter nicht tonnenschwer, aber es reichte für einen komplizierten Bruch. Links und rechts. Und für den Durchbruch im Internet. Marinas Welt änderte sich mit einem Schlag. Das Video ging viral. Und Marina ins Spital.

Als sie das letzte Mal nachgeschaut hatte, vor ein paar Minuten, waren es bereits zweitausend Abonnenten. Plötzlich schienen alle an ihrem Leben interessiert. Nur ihr Bruder hatte Marinas Welt verlassen, aus Protest wegen des Sexheftchens.

Marina kontrollierte nochmals, ob sie auch wirklich nichts zwischen den Zähnen hatte, dann drückte sie auf «Play»: «Hallo, ihr Lieben, hier bin ich wieder, es geht mir bäumig, wirklich, astrein, ge-Linde-gesagt, ich könnte Bäume ausreissen …» Sie zeigte ihre einbandagierten Arme in die Kamera, zwang sich ein verschmitztes Lächeln ab und … drückte unter Schmerzen auf «Stop». Was für ein Schwachsinn! Bäumig! Was sollten diese Wortspiele? Das war doch völlig lächerlich. Was wollte sie überhaupt erzählen? Marina wusste es schlicht nicht. Sie wusste nur, dass sie so schnell wie möglich ein Video raushauen musste, und zwar ein gutes, sie durfte ihre Follower nicht enttäuschen. Denk nach, denk nach! Marina löste den Kaugummi und steckte ihn zurück in ihren Mund. Es war langweilig hier drin. Ein stinknormales Krankenzimmer. Mit glänzendem Linoleumboden. Vier Schränken. Einem Tisch. Einer Toilette. Einem Fenster. Und diesem Geruch.

Marina startete gerade den fünften Videoversuch, als die Tür aufging und gleich zwei Patientinnen in ihren Betten hereingerollt wurden. Eine alte und eine mittelalte. Beide schienen zu schlafen. Marina protestierte. Man habe ihr doch versprochen, dass sie hier ungestört sein würde, sie müsse arbeiten, es sei wichtig.

Als die Krankenschwestern die Tür hinter sich zuzogen, hob die Alte ihren schlohweissen Lockenkopf. Wichtig sei für ein so junges Mädchen nur, hier wieder rauszukommen. Und sie möge doch bitte den Kaugummi loswerden. Das gebühre sich nicht.






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