Episode 13

Lauf, lauf!

Die drei Patientinnen werden zu Fluchthelferinnen und Roberto muss Haare lassen.

Carlo leckte sich und schnurrte. Der schwarze Kater hatte es sich im achten Stock auf einem Rollstuhl bequem gemacht. Ungestört. Er hatte nichts gegen Menschen, aber er suchte auch nicht unbedingt ihre Nähe. Ausser sie starben. Dann war Kater Carlo zur Stelle. Er konnte den Tod schon Tage vor dessen Ankunft riechen. Durch die Türen, durch die Wände, durch die Gänge. Er brauchte nur dem Duft zu folgen und dann legte er sich zu dem sterbenden Menschen hin. Nicht aus Mitleid. Einfach weil es ihm richtig vorkam. In diesen Momenten fühlte er sich am richtigen Platz. Carlo war keine gewöhnliche Hauskatze. Er war eine Krankenhauskatze. Eine selbsternannte.
«Besetzt», sagte Estelle, als sie um die Ecke spähte, «da sitzt schon jemand drin», sie musste lachen. «Da ist die schwarze Katze ja wieder», sagte Marina, «glauben Sie mir jetzt?! Verdammtes Katzenvieh. Gschhhh! Gschhhhhh!» Marina versuchte Carlo mit Zischen zu verscheuchen, gerne hätte sie auch laut in die Hände geklatscht, aber ihre Verletzung liess es nicht zu. Ausserdem stützte sie Lilly so gut es ging. «Meine Liebe», sagte Lilly, «das ist keine Katze, das ist ein Kater. Das sieht man doch. Und was für ein stattlicher. Lass mich nur machen.» Lilly beugte sich zu Carlo runter und küsste ihn auf den Kopf. «Riecht auch noch gut, der Kerl», sagte sie, «der darf bei mir auf den Schoss.» Sofort räumte Carlo den Platz. Er miaute, strich den drei Patientinnen um die Beine und hüpfte schliesslich auf Lillys Schoss, als sich diese in den Rollstuhl plumpsen liess. «So ist’s recht», sagte Lilly, und kraulte ihn unter dem Kinn. Carlo genoss es. «Nun hat der Rollstuhl ein schnurrendes Motörchen. Auf ins Abenteuer!»

«Das wird aber teuer. Uiuiui. Wenn ich du wäre, würde ich wegrennen.» Robertos Chef holte aus und klatschte dem Verletzten mit der flachen Hand auf den linken Oberschenkel. Roberto schrie auf. «Ach», sagte der Chef, «aber du kannst ja gar nicht wegrennen». Nun nahm er die Faust. Schlug gleich zweimal zu. Auf den rechten Oberschenkel. Roberto drückte den Alarm, ihm wurde fast schwarz vor Augen. «Morgen hole ich dich ab. Und ich bringe keine Blumen mit.» Der Chef holte abermals aus, aber da ging die Tür auf. «Gut sind Sie da», sagte der Chef zur Pflegefachfrau, «die Schmerzmittel scheinen nachzulassen.» Er wischte Roberto mit dem Daumen eine Träne ab und tätschelte seine Wange. «Ich freue mich auf morgen, wenn du rauskommst.» Dann nahm er seinen Bauhelm. «Seien Sie sanft zu ihm.»

Kantonspolizist Hitz tankte das Dienstfahrzeug. Es brachte Unglück, wenn die Anzeige unter halb voll rutschte. Das sagte er zwar nicht offen, aber es war auch nicht nötig. Für einen kurzen Stopp an der Tankstelle war sein Kollege Frunz immer zu haben. Jedenfalls an dieser Tankstelle. Hitz vermutete, dass das eher mit der Verkäuferin zu tun hatte, als mit dem Schoggistängeli, mit dem Frunz jeweils zum Auto zurückkam, aber das war bisher nie Thema gewesen. Bisher.
«Alles gut?» fragte Hitz. Sie waren nun schon auf Höhe Dättwiler Weiher und sein Kollege Frunz hatte immer noch kein Wort gesagt. Normalerweise war der nach dem Tankstellenabstecher jeweils kaum zu bremsen, richtig aufgekratzt, und zwar extremer, als dass man einen Schoggistängeli-Zuckerschub alleinig dafür hätte verantwortlich machen können. Dieses Mal, hatte Frunz gar keine Schokolade mitgebracht. Nur dieses traurige Gesicht. «Alles ok?» fragte Hitz noch einmal. Dann legte Frunz los. Diesem Rosenkavalier und Hochseiltänzer gehöre nun schleunigst das Handwerk gelegt, die Leute hätten ein völlig falsches Bild von dem Typen, würden ihn gar bewundern, fänden ihn lustig, jawohl lustig! Das Personal schaue ja nur noch dieses Video hinter der Kasse und lache und schmelze ab diesem schmalzigen Kerl, anstatt die Stammkundschaft zu bedienen. «Da kaufe ich doch kein Schoggistängeli mehr!» Hitz bremste ab, die Autos stauten sich. Frunz schaltete das Blaulicht ein. «Überholen, los!»

Als Estelle ohne anzuklopfen die Tür aufmachte und die drei Patientinnen samt Kater ins Zimmer schauten, stand Roberto Borello gerade unter grausamen Schmerzen vor dem Spiegel und sichelte sich mit einer stumpfen Verbandsschere die Haare kurz. Die bereits abgeschnittenen Strähnen hatte er in eine Nierenschale gelegt.
Lilly fing sich als erste wieder. «Unten beim Haupteingang gäbe es sonst einen Coiffeur, falls sie sich für unsere Blumenfrau hier hübsch machen wollen.» Sie zeigte auf Estelle, die sofort errötete. «Oh», sagte Roberto und wurde selber rot. Mit dem zerzausten Resthaar sah er aus wie eine Gewitterhexe, die auf ihrem Besen mitten durch einen Orkan geflogen war. «Und einen Blumenladen gibt es dort unten auch», sagte Marina aus purer Verlegenheit. Estelle rammte ihr sofort den Ellbogen in die Seite. «Bitte», sagte Roberto, und stützte sich auf dem Lavabo ab, fast wäre er eingeknickt, «bitte helfen Sie mir.»

«Dem werd ich helfen, glaub mir», sagte Frunz, der sich den Rest der Autofahrt in Rage geredet hatte. «Das gibt eine schöne Schlagzeile.» Und dann machte er mit der Hand eine Bewegung als klebe er die Schlagzeile in die Luft: «Überführt! Casino-Vandale bringt sich selber zu Fall.» Hitz ergänzte. «Das Phantom, das nach den Sprayereien von der Casino-Parkhauskamera gefilmt wurde, hat endlich ein Gesicht. Dank seiner Überheblichkeit und den wachsamen Augen zweier Kantonspolizisten konnte der Täter überführt werden. Pure Selbstüberschätzung brachte den Kriminellen zuerst ins Spital und anschliessend vor den Richter…» Hitz und Frunz steuerten zielstrebig auf die Anmelde zu. «Wo liegt der Spagat-Patient?»

«Liegen Sie ganz ruhig, kein Mucks», sagte Estelle und schob das Bett mit Marinas Hilfe in den Lift. Unter dem Lacken zeichnete sich Robertos massiger Körper ab. Der Kater hatte sich aus eigenen Stücken zu seinen Füssen gelegt. Lilly rollte mürrisch hinterher. «Jetzt geht mir sogar noch der Kater fremd. Das geht mir an die Nieren.»

Die Nierenschale mit den Strähnen rutschte vom Lavabo, als Hitz und Frunz ins Zimmer platzten.

Und Estelle hatte gleichzeitig eine haarsträubende Idee.






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