Episode 12

Der Spagat

Bei Roberto reisst etwas ab. Marina und Lilly reissen etwas an. Und Estelle ist hin und her gerissen.

Roberto Borello konnte aus dem Stand in den Spagat springen, das hatte er schon mehrfach bewiesen. Bei seiner Lehrabschlussfeier zum Beispiel. Oder damals in Ischgl, beim Après Ski. In voller Montur. Mit den Skischuhen! Dieser Spagat-Trick war seine Spezialität. Und wann immer Roberto ihn zur Aufführung brachte, gab es rundherum Bewunderung. Es klappte auch dieses Mal. Nur leider nicht so, wie Roberto sich das vorgestellt hatte. «Potzblitz», sagte Dr. Hämmerli, «das muss Ihnen erst einmal einer nachmachen.» Der Fall war einigermassen klar. Dr. Hämmerli hatte den Spagat, also den Unfallhergang, selbst gesehen. Von der Cafeteria aus. Zusammen mit ganz vielen anderen, die an den Fenstern klebten. Was für ein Spektakel! Und dann steht der nicht mehr auf. Bleibt einfach im Spagat sitzen. Auf dieser schwankenden Plattform. In schwindelerregender Höhe. Man muss sich das einmal vorstellen! Die Bergung dauerte über eine Stunde. Man diskutierte sogar, ob man den Helikopter aufsteigen lassen sollte. Schlussendlich kam ein zweiter Kran zum Einsatz. Sämtliche Arbeiten auf der Baustelle wurden unterbrochen. Was das kostet! Aber mit diesen Gedanken wollte Dr. Hämmerli Roberto nicht zusätzlich belasten. «Potzblitz», sagte er noch einmal. Er habe es vermutet. Starke Schmerzen, die Muskeln verdickt, ohne Muskelkraft, Verfärbung der Haut, er habe es vermutet. Aber das MRT bestätige nun deutlich das Ausmass der Verletzungen. Jawohl. Verletzungen. Man habe es hier mit einem vollständigen Abriss der hinteren Oberschenkelmuskulatur zu tun. Bei beiden Beinen. Ja. Und einzelne Sehnen kämen auch noch hinzu. Roberto stöhnte auf. Trotz Kühlen und Hochlagern und Medis tat es immer noch weh. Zwischendurch schien er vor Schmerz gar zu halluzinieren, schon zweimal hatte er eine schwarze Katze gesehen. Als er beim Notfall reingerollt wurde, und gerade eben, hinter Dr. Hämmerlis Rücken, da war eine schwarze Katze durchgehuscht. Er hätte es schwören können.

«Ich schwöre Dir, ich schmeiss dieses Handy jetzt dann gleich aus dem Fenster», sagte Estelle und machte einen Schritt auf Marina zu.
«Aber wir müssen ihn doch anrufen», sagte Marina und stopfte sich das Handy zur Sicherheit in die Unterhose. «Wir müssen doch wissen, wie es ihm geht.
«Du musst vielleicht wissen, wie es ihm geht», sagte Estelle, «du hast ihn ja überhaupt zu diesem hirnverbrannten Hochseilakt motiviert, keine Ahnung wie! Nur um das Ganze zu filmen! Schämst du dich nicht?»
Marina griff sich in die Unterhose. «Ich rufe ihn jetzt an. Und übrigens. Er hat das für Sie getan! Er wollte Sie zum Lachen bringen. Und das hat er ja auch geschafft! Bis zu diesem Spagat-Sprung.»
Estelle zitterte immer noch. Wieso brachte sich dieser wildfremde Spinner für sie in Gefahr?
«Für mich hat sogar einmal ein Mann sein Leben gelassen», meldete sich Lilly. Sie schaute mit verklärtem Blick aus dem Fenster und spielte mit ihrem Armband. «Um meinen Ruf zu wahren. Ich musste ihn nicht einmal gross überreden. Ein wahrer Gentleman. Hat davor sogar extra noch all unsere Briefe verbrannt. Aber das ist lange her.» Lilly betrachtete ihre Fingernägel. «Ich brauche eine Maniküre.»
«Nun hören Sie aber auf», sagte Estelle, «das glaubt Ihnen doch kein Mensch.»
«Wenn ich’s doch sage», antwortete Lilly, und streckte Estelle ihre Nägel entgegen.

«Hallo? Ja, äh, bitte entschuldigen Sie, äh, ich wollte nur fragen, geht es ihnen gut?» Marina war aus dem Zimmer geschlüpft. Nervös ging sie ein paar Schritte den Gang runter. «Ich frage für die Blumenfrau.»

«Wusste ich’s doch!» sagte Kantonspolizist Hitz und vollführte ein kleines Tänzchen vor dem Computer. «Eindeutig! Das ist er!» Sein Kollege Frunz vergrösserte das Foto noch ein wenig mehr. «Du hast Recht. Das ist er», sagte Frunz. «Ohne Schnauz, und mit diesen langen Haaren, sieht er irgendwie viel harmloser aus.»

«Er heisst Roberto und wünscht sich, dass Sie ihn unten besuchen kommen», sagte Marina, als sie zurück ins Zimmer trat. Sie zeigte Estelle ein Bild auf ihrem Handy. «Das hat er für Sie geschickt», Marina vergrösserte das Foto. «Und die Zimmernummer habe ich auch.»
Estelle sagte nichts. «Ist das sein Po?» fragte Lilly und drückte ihre Brille mit dem Zeigefinger näher an die Augen. «Eher das, was davon übrig ist», sagte Marina, «hier sieht man den Bluterguss.» Sie schob das Foto auf dem Display herum. «Also ich komme mit», sagte Lilly. «Besorgt mir einen Rollstuhl und dann schauen wir uns diesen Roberto einmal in Natura an. Der Arme. Friert doch sicher auch. So halb nackt.»
Estelle wollte schon aus der Haut fahren, da fiel ihr die Parallele auf. Sie hatte sich verletzt, um von ihrem Verlobten wegzukommen. Und dieser verrückte Roberto hatte sich verletzt, um zu ihr zu kommen. Oder nicht? Vielleich war das auch viel zu weit hergeholt. Vielleicht machte ihr Hirn Verbindungen, die es gar nicht gab. Immerhin war sie mit dem Kopf ordentlich aufgeschlagen. Oder vielleicht war gar nicht ihr Kopf das Problem, sondern ihr Herz, das sich eine neue Liebe so sehr wünschte. «OK», sagte Estelle, und die anderen beiden schauten sie erstaunt an. «Aber wir gehen zu dritt.» Sie schlug die Decke zurück und schloff in ihre Hausschuhe. «Endlich mal raus aus diesem Zimmer. So ein kleiner Ausflug tut uns vielleicht allen mal gut.»

«Na dann los», sagte Kantonspolizist Frunz und schnürte sich die Dienstschuhe. «Gehen wir den Vogel einsammeln.» Sein Kollege Hitz machte automatisch einen Kontrollgriff zu seinen Handschellen. «Ja. Jetzt ist er lange ausgeflogen.» Hitz zog die Nase hoch. «Aber dieser Ausflug ist nun vorbei.»






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