Episode 10

Pizza-Poesie

Roberto Borello folgt einem Impuls. Um drei Uhr morgens. Und rennt los.

Roberto Borello öffnete die Halbliter Bierbüchse und leerte das Bier bis zum letzten Tropfen in den Ausguss. Sofort roch es in seiner winzigen Küche nicht mehr nach dem Basilikum, das in der Fensternische stand, und nach Pizza, sondern derart streng, dass Roberto einen Fluch ausstiess. Er drehte den Wasserhahn auf und wartete ein Weilchen, ehe er die Büchse auswusch und schliesslich mit Wasser füllte. Seine Kollegen von der Baustelle hatten es ja gut gemeint. «Ein Bier!» sagten sie, «ein Bier hat er sich verdient», als Roberto mit der Rose zwischen den Zähnen vom Gerüst kletterte. Und geklatscht hatten sie. Und ihn beglückwünscht. Roberto stellte die Rose in der Bierbüchse ein und nahm sie mit zur Matratze, die auf dem Boden lag. Ein Nachttischlein hatte er nicht. Er stellte die Büchse neben die Matratze und legte sich hin. Was für ein Tag. Seine Muskeln brannten. Aber das war nicht das Problem. Im Gegenteil. Wenn du neben einem Spital arbeitest, und jede Ambulanz siehst, die ausrückt, oder eintrifft, dann nimmst du Schmerzen anders wahr. Dann bist du einfach froh, wenn du abends in deinem Bett liegst und nicht hinter einem dieser tausenden, anonymen Fenstern. Irgendwann hatte Roberto zu zählen aufgehört. Ambulanzen und Fenster. Er hatte sich auf seinen Job konzentriert und seine Gedanken wieder auf Stahlprofile, Schutt und Rohre gelenkt, auf Beton und Hebelast, und weg von Patientinnen und Patienten. Bis dieses eine Fenster aufging. Und ein Ballon entschwebte. Und dann noch einer. Und noch einer. Mit einer Blume dran. Roberto drehte sich auf die andere Seite. Zog die Knie an. Nun war dieses eine Fenster nicht mehr anonym. Er konnte es unter all den anderen deutlich herauszeigen. Und er brachte es nicht mehr aus dem Kopf. Wegen dieser Blumenfrau. Roberto drehte sich zurück. Wie spät war es überhaupt? Er hatte Durst. Und heiss. Er drehte sich. Und drehte sich erneut. Tastete nach der Blume. Die Bierbüchse kippte. Roberto schnellte hoch.
Sein Vater war ein schlechter Lehrer, dafür ein umso besserer Trinker gewesen. Seine Mutter verbrachte die Tage vor dem Fernseher und die Nächte in Spielcasinos. Roberto hatte schon früh gelernt, nur sich selbst zu vertrauen, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Er akzeptierte schlicht keine Ratschläge oder Sprüche von anderen, er fand alle Antworten, alles, was er über das Leben wissen musste, in sich. Und zwar ohne Hokuspokus-Firlefanz und Räucherstäbchen-Quatsch. Dagegen war er allergisch. Irgendwelchen Guru-Kram. Nein. Er vertraute seinen Ohren, seinen Augen, seiner Nase und seinem Mund. Er vertraute seiner Haut und seinem Herzen. Punkt. Langes Abwägen war eher nicht sein Ding. Roberto tat, wonach es ihm war, und natürlich hatte ihm das im Laufe seines fast Dreissig jährigen Lebens die eine oder andere Ohrfeige und auch sonst eine Menge Ärger eingebracht.
Roberto schloss seine Faust um den Rosenstil. Immer enger. Drückte solange zu, bis ihm Tränen in die Augen traten. Dann riss er ein Stück aus einem der Pizza-Kartons, die um die Matratze herumlagen und begann mit seinem Blut zu schreiben. Roberto war kein Romantiker. Er war ein Praktiker. Er hatte weder Stift noch Papier zur Hand, aber plötzlich eine fixe Idee im Kopf, und genug Pfeffer, sie auch umzusetzen. Um drei Uhr morgens. Er zog die Schuhe an und die Tür hinter sich zu. Es war eine laue Sommernacht. Der Mond und die Sterne strahlten hell, er brauchte keine Taschenlampe. Nur Klebeband. Und wo das zu finden war, wusste er blind. Den Weg bis zum KSB joggte er, und wurde beinahe euphorisch unterwegs. Er wusste nicht, warum er das tat. Er wusste nur, dass er es tun musste. Das sagte ihm seine Haut, denn sie juckte. Und an diesen Stellen juckte sie immer nur dann, wenn er nervös war. Und das sagten ihm auch seine Augen, denn wenn er sie schloss, konnte er die Blumenfrau noch immer sehen. Und das sagte ihm auch sein Herz. Denn es schlug in seinem Hals. Roberto rannte. Trotz Bauch. Und seine langen Haare wurden feucht. Nass. Als er endlich ankam. Durchatmen. Sammeln. Roberto wusste, wo all die Schlüssel lagen. Nun rasch das Klebeband. Und dann zum Bagger. Und hoch die Schaufel. Höher. Höher. Es war keine sonderlich gefährliche Aktion. Aber er durfte unter keinen Umständen erwischt werden. Das konnte sich Roberto Borello nicht leisten. Nicht mit seinen Vorstrafen. Er wartete die nächste Ambulanz ab und kletterte vom Dach über den Arm auf den Schaufelspitz. Er musste sich strecken. Und er brauchte mehrere Versuche. Aber schliesslich klebte das Stückchen Pizza-Karton am gewünschten Fenster. Roberto brachte den Bagger zurück in Schlafposition. Und sich selbst auch, in der Baggerschaufel, denn nach Hause lohnte sich definitiv nicht mehr. Schon bald würde ein neuer Arbeitstag anbrechen. Und Roberto freute sich darauf. Und schlief schon bald ein. Unentdeckt. Während er online schon so etwas wie ein kleiner Star war. Das Video vom Arbeiter, der von einem Baugerüst aus halsbrecherisch nach einer Rose an einem Ballon schnappte, ging tatsächlich viral.






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