Episode 25

Die goldige Zeit

Mögen sie nun anbrechen. Nach all den Gebrechen…

Estelle hatte genug. Mehr als genug. Sie sass in der Bye Bye Bar am Flughafen Kloten, einen Apérol Spritz vor sich, und zählte die Noten im Couvert. Ihr Ex-Verlobter, Mark Burri, hatte noch einen Tausender draufgelegt, als Estelle beim Abholen ihrer Sachen ein fremder Geruch aufgefallen war. «Sag mal, riecht es hier nach Blumen?» hatte sie gefragt und sich in ihrem ehemaligen Daheim umgeblickt, «oder gar nach der Blumenfrau?» Mark war sehr daran gelegen, dass sie beide sich auf eine offizielle Trennungs-Version einigen konnten. Er sah gut aus. Keine Tränensäcke, keine schwarzen Ringe, sein Atem war frisch, er strahlte Zuversicht aus, er schien zufrieden und glücklich, richtig bei sich, und Estelle gönnte es ihm. Selbstverständlich werde sie seiner Mutter und seiner Schwester nichts von der Neuen stecken, auch nicht durch die Blume, versprach sie, und freute sich für Mark, und darüber, dass ihm ihr Glück ebenfalls einiges Wert war. «Geniess Indien», sagte er zum Abschied, «und wenn du dich irgendwann einmal wieder aus heiterem Himmel fallen lässt, dann bitte nur in die Arme des Richtigen.»
Indien. Wie oft hatte sie sich diese Videos angeschaut, von diesem indischen Guru, auf der Couch, eine Schüssel Chips neben sich, in Schlabber-Pulli und Trainerhose, nun hatte sie ein Flugticket.
«Nehmen sie noch einen?» kam der Herr vom dritten Tisch links zu Estelle herüber. Er hatte sie schon die ganze Zeit mit seinen Augen abgetastet. «Darf ich sie einladen?»
Estelle tippte nur auf den Ring an ihrem Finger. Der Mann setzte sich wieder. Der Ring war aus Gold. Lilly hatte ihn sich beim Abschied mühsam vom Finger geschält. «Nimm ihn», hatte sie zu Estelle gesagt: «Schätzchen, jetzt kommt deine goldige Zeit.»

Marina nahm ihren Kaugummi aus dem Mund und klebte damit den selbstgezeichneten Plan auf den Tisch.
Drei Tage werkelte sie an der Hütte, die Ärmel hochgekrempelt, mit nackten Armen, und verbaute geschickt zwei SBB Paletten, einen IKEA-Schrank, einen Velo-Unterstand, eine alte Sprossenwand und einen Katzen-Kratzbaum. Dann war sie fertig. Sie lud ihren Bruder und dessen neue Freundin zur Erstbegehung der Baumhütte ein. Unter dem abgewetzten Teppich hatte sie extra ein Sexheftlein deponiert und als ihr Bruder es fand, zog sie ihr Handy hervor und löschte vor seinen Augen ihren Blog und ihren Youtube-Kanal. Dann holte sie aus und schleuderte das Handy vom Baum hinunter, gegen die Hausmauer. «Willkommen», sagte Marina, «willkommen zurück, in Marinas Welt.»

Kantonspolizist Hitz tankte das Dienstfahrzeug. Sein Kollege Frunz war nun schon eine ganze Weile drinnen im Shop. Offenbar war er erfolgreich. Hatte das Tanzvideo vielleicht doch noch sein Gutes gehabt. Hitz sah, wie sich die Verkäuferin angeregt mit Frunz unterhielt. So hatte sie das noch nie getan. «Grüezi – es Schoggistängeli? – Kassebon? – Adieu» war normalerweise das Höchste der Gefühle. Und Hitz musste dann Frunz jeweils emotional vom Boden aufkratzen und wieder aufpeppeln. Aber heute nicht.
Frunz kam beschwingt zum Auto zurück, den Ketchup-Song summend, und ohne etwas gekauft zu haben. Vor lauter Quasselei, habe er das doch tatsächlich vergessen. Aber Schoggistängeli gäbe es jetzt sowieso nicht mehr, jetzt werde abgespeckt. Im Video habe er ja richtig dick ausgesehen. Obwohl Steffi, so heisse übrigens die reizende Verkäuferin, das ganz und gar bestritten habe. «Und?» fragte Hitz gespannt. «Ja nichts und», sagte Frunz, «da gibt’s noch kein und», er habe Steffi ja erst gerade kennengelernt. Aber eins sei jetzt schon klar. «Die hat Humor.» Warum er das wisse, fragte Hitz. «Die hat mir einen Witz erzählt, da brichst du zusammen, pass auf: «Fragt ein Polizist eine alte Frau:» Ist ihr Auto verkehrstauglich?»
«Ah, ja», sagte Hitz, «den kenn ich, der ist wirklich nicht schlecht.» Und er klopfte seinem Kollegen wohlwollend auf die Schulter: «Ich freue mich für Dich, ehrlich, Frunz, ich freue mich sehr.»

«Bambus-Klatsche?» fragte Mistress Ronya from Hell, aber Pesche winkte ab. Er sei bedient, und ob sie nicht auch Feierabend machen könne? Draussen warte noch eine Überraschung, falls sie möge, er freue sich wie ein kleiner Junge.
Die Mistress machte sich nicht allzu viel aus Autos, aber sie musste zugeben, dass dieses schon ordentlich Stil hatte. «Ford Mustang Coupé, 1967», meinte Pesche und fragte etwas verlegen, ob er sie irgendwo hinfahren dürfe, etwa zu einer Pizzeria. Natürlich nur wenn sie wolle. Er würde sie gerne einladen. «Sehr gerne», sagte die Mistress und wechselte in ihre normale Stimme. «Ist dieses alte Auto denn überhaupt verkehrstauglich?»

Lilly brauste über die Autobahn. Selbstverständlich ohne Helm. Hinter ihr auf dem Sitz lag Kater Carlo, schön zusammengerollt, in einer Katzentransport-Kiste. Lilly hatte sie mehr schlecht als recht mit Spanngurten fixiert. Die Harley blitzte in der untergehenden Sonne. «Ans Meer, Carlo!» rief Lilly gegen den Fahrtwind an, «ich habe den Schlüssel zu einem schönen Häuschen, direkt am Strand, da wärmen wir uns jetzt den Pelz!» Sie warf die Faust in die Luft wie ein Boxer nach einem hart erkämpften Sieg. Und in ihrer Jackentasche klimperte Schmuck-Röbis Schlüsselbund.

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