Episode 22

Mutter?

Die Lüge ist die Mutter aller Sünden…

Anwalt Mark Burri starrte auf sein Handy. Es vibrierte immer noch. Er kannte die Nummer nicht. Wer rief ihn hier an? Nur eine Handvoll Leute kannten die Nummer seines Privathandys. «Na los», sagte Monika, «geh ran». Burri drehte sich ab, damit die Blumenverkäuferin nicht noch mehr Blicke auf sein Hintergrundbild erhaschen konnte. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm tatsächlich abgenommen hatte, dass diese Frau auf dem Bild seine Mutter in jungen Jahren war. Zugegeben, viele werden es nicht sein, die ein Bild ihrer Mutter als Hintergrundbild auf dem Handy mit sich herumtragen. Aber Burri hatte Monika ja erzählt, dass die Mutter im Sterben liege, und er hatte bei ihr jetzt jeden Tag Hortensien für die Mutter gekauft, da konnte sie das für sich hoffentlich unter der Kategorie «liebender Sohn» einordnen und nicht unter «Freak» oder gar «Lügner». Burri nahm den Anruf an.
«Mark!», sagte Estelle laut ins Handy, «ich brauche deine Hilfe.» Sie hatte extra Marinas Handy genommen für den Anruf, damit er auch sicher abnimmt. Sie kannte ihren Verlobten. Er war nachtragend. Und sie hatte ihn gekränkt. Hätte sie mit ihrem Handy angerufen, er hätte sie bestimmt weggedrückt. Aber ein unbekannter Anrufer? Auf seinem Privathandy! Auf seinem PRIVATHANDY! Estelle fand es schon fast wieder belustigend, was der sich auf sein Privathandy einbildete und wie theatralisch der jeweils reagierte, wenn jemand auf sein PRIVATHANDY anrief. Nun, jetzt hatte sie Mark am Draht. «Hörst du mich?!» sagte sie noch etwas lauter. Hinter ihr riss Marina gerade das Fenster auf und eine Krankenschwester beugte sich über den komischen Kauz, der unter Lillys Bett lag und nach Luft schnappte. Obwohl längst als falscher Alarm gemeldet, tutete der Rauchmelder immer noch penetrant vor sich her. «Hörst du mich?!»
Mark bedeutete Monika, dass der Anruf wichtig sei und entfernte sich ein paar Schritte vom Blumenladen. «Was ist da los bei euch?» fragte Mark irritiert und besorgt zugleich. Weshalb rief Estelle ihn mit einem fremden Handy an? Was war das für ein Lärm im Hintergrund?
«Feueralarm», sagte Estelle, «aber…» Weiter kam sie nicht. Mark hatte aufgelegt.
«Ist etwas passiert?» fragte die Blumenverkäuferin, als Mark hastig am Blumenladen vorbeischritt, Richtung Lift. «Ist etwas mit deiner Mutter?», rief sie ihm hinterher.
Mark hörte Monika gar nicht. Er dachte nur an Estelle. Ihr durfte nichts geschehen. Das durfte nicht sein. Nicht auszudenken. Während er sich mit einem jungen Pflänzchen vergnügte. Mark ekelte sich vor sich selber. «Komm schon, komm schon». Er hämmerte auf den Liftknopf. Die Tür ging auf.
Monika sah gerade noch, wie Mark im Lift verschwand. Sie war ihm nachgelaufen. Mit den Hortensien. Mark hatte sie auf dem Verkaufstresen liegenlassen.
Sie schaute hoch zur Anzeige. Achter Stock. Im Achten Stock hielt der Lift an. Monika drückte auf den Knopf.
«Dürfen wir mitfahren?» fragte eine Stimme hinter ihr. Als Monika sich umdrehte standen da zwei Polizisten der Kantonspolizei. «Wir sind hier in einer brenzligen Angelegenheit», sagte der eine. Und der andere: «Wissen sie, was ein Polizist als erstes denkt, wenn er Blumen sieht?»

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