Episode 21

Der Alarm

Wer man wirklich ist, zeigt sich erst in Ausnahmesituationen.

Pesche fackelte nicht lange. Der reformierte Pfarrer vertraute zwar auf Gott, aber nur so lange es nicht brenzlig wurde. Bei drohender Gefahr brachte er sich reflexartig in Sicherheit. Da war er wie ein Tier. Da unterschied er sich in keinster Weise vom schwarzen Kater Carlo. Nur zwei Sekunden nachdem der Alarm losgegangen war, hockten beide unter Lillys Bett, die Nackenhaare gesträubt, mit Angst in den Augen.
Der Alarm konnte alles bedeuten. Dass er ausgerechnet von seinem Öllämpchen ausgelöst worden war, daran dachte Pesche nicht. Er dachte vielmehr an Erdbeben oder Terror, und langsam aber sicher, schnürte es ihm die Kehle zu.

«Am besten du fährst gleich vor die Eingangstür», sagte Roberto Borello und dirigierte Marinas Bruder vom Rücksitz aus zum Ländliweg 2. «Und vergiss die Schilder, wir sind Zubringer.» Marinas Bruder war es sichtlich unwohl, er fuhr im ersten Gang und alle paar Meter würgte er fast den Motor ab. «Wo bringe ich sie denn hin, was ist das für ein Gebäude?»
«Amigo», sagte Roberto und klopfte Marinas Bruder auf die Schulter, «ich bin froh, dass du dieses Gebäude nicht kennst, und ich hoffe für dich, dass du es nie von innen sehen wirst. Bitte hilf mir auszusteigen. Ich werde mich hier stellen.»
«Hier wollen sie sich hinstellen?» fragte Marinas Bruder als er Roberto aus dem Auto half, «das schaffen sie doch nie und nimmer, sie können sich ja kaum auf den Beinen halten vor Schmerzen.»
«Hinsetzen», sagte Roberto und biss auf die Zähne, «ich werde mich hier auf diese Treppenstufe setzen und mich der Polizei stellen.» Unter Stöhnen liess er sich nieder. Marinas Bruder erbleichte. «Ganz recht, Amigo», sagte Roberto, «das ist der Badener Stützpunkt der Kantonspolizei, du hast mir sehr geholfen.» Roberto streckte die Hand aus und verlangte den Autoschlüssel. «Du hast mir geholfen das Richtige zu tun.» Nun streckte er Marinas Bruder die Ghettofaust hin. «Mach auch du das Richtige. Geh ins Kino. Los. Und komm nicht vom Weg ab.»
Kaum war Marinas Bruder weg, bog ein Polizeiauto um die Ecke.

Die Kantonspolizisten Hitz und Frunz wussten jetzt, weshalb der «Pate» sie so dringend sehen wollte. Ihr Chef hatte am Telefon etwas von einem Video gesagt, das sich rasant verbreiten würde, und auf Höhe Dättwiler Weiher, im Stau, hatte es Hitz dann auch gefunden. Erst auf youtube. Gepostet von «Marinas Welt». Dann beim Blick. Dann bei facebook. Auf zwanzig Minuten. Und bei Watson. Immer wieder spielte Hitz das Video ab, und Frunz sass daneben und platzte fast. Vor Stolz. Natürlich war das unprofessionell. Aber wenn man sich die Uniform einmal wegdachte, und wenn man nur den Tänzer und Sänger Frunz sah, wie er den Ketchup-Song interpretierte, dann war das alles andere als unprofessionell. Fand Frunz. Und persönlich konnte er sich auch nicht vorstellen, wie dieses Video dem Image der Kantonspolizei schaden könnte. Aber der Pate hatte da bestimmt eine andere Meinung. Die beiden Polizisten machten sich schon auf das Schlimmste gefasst und sie waren gänzlich verstummt vor Sorge, als sie beim Bezirksgebäude um die Ecke bogen und dort Borello sahen. Zusammengekauert, eine Zigarette paffend.

«Chef, wir haben ihn!» sagten Hitz und Frunz im Chor, beinahe euphorisch, als sie Roberto Borello ins Büro des Paten trugen, «wir haben ihn geschnappt!»
Roberto würde für all seine illegalen Aktionen gerade stehen, das hatte er Hitz und Frunz draussen versprochen, und sie durften seine Verhaftung auch für sich in Anspruch nehmen, er hatte nur eine Bitte, er wollte mit seiner Mutter telefonieren und endlich Frieden schliessen.
Der Chef schaute vom Bildschirm auf, auf dem das Tanzvideo lief. «Die NZZ hat das Video übrigens nicht aufgegriffen», sagte Hitz sogleich, «so viel zur Relevanz.» Natürlich tat es Frunz weh, aber er doppelte vehement nach, «das interessiert morgen kein Bein mehr.»
«Ich mach euch gleich Beine», flüsterte der Chef, und die nächsten paar Minuten vergass er sich komplett und fand immer wieder neue Wort-Kombinationen aus dem Tier- und Fäkalbereich, bis er schliesslich aufstand und zum Fenster schritt. Er starrte wortlos nach draussen. Hitz, Frunz und Roberto schauten sich hinter seinem Rücken ratlos an. «Dass ihr den Casino-Sprayer nun habt, hat euch gerettet», fuhr der Pate nach einer Weile fort, ohne sich umzudrehen. «Und deshalb schicke ich euch gleich nochmals zurück ins KSB. Ins Zimmer 16.» Jetzt drehte sich der Pate um. Machte einen Schritt auf die drei zu. «Erstens redet ihr dieser Marina Kehl nachhaltig ins Gewissen, dass solche Videos echt verletzend sind», er stupfte Roberto ins Bein, dass dieser aufschrie, «und zweitens kam vorher die Meldung rein, dass es dort brennt.» Er zupfte Hitz und Frunz die Uniform zurecht. « Schleppt diesen Hobbykünstler zum Verhör und dann Abmarsch.»
Hitz und Frunz erfüllten zuerst Robertos Bitte, dann den Befehl ihres Chefs.

Anwalt Marc Burri zog gerade den Reissverschluss hoch, als das Handy in seiner Hosentasche klingelte. Der Materialraum des Blumenladens hatte sich als äusserst geräumig herausgestellt. Und Monika, die Blumenverkäuferin, als wenig schüchtern. Burri war verliebt. «Geh ruhig ran», sagte Monika und gab ihm einen Klapps auf den Hintern, «vielleicht ist es wichtig.» Burri holte das Handy hervor. Auf dem Display erschien Estelle als Hintergrundbild. Burri hätte sich ohrfeigen können. «Wer ist das?» fragte die Blumenverkäuferin. «Meine Mutter», sagte Burri.

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